Demenz - eine Krankheit des Bewusstseins

Möglicherweise ist meine Perspektive auf Demenz nicht politisch korrekt, denn das medizinische Narrativ sagt uns, dass es sich bei Demenz um eine unerklärliche neurodegenerative Veränderung handelt und wir diesem Vorgang schicksalshaft ausgeliefert sind, wenn er einmal eingesetzt hat, und dass wir im Grunde auch nichts tun können, um uns mit Garantie davor zu schützen - abgesehen von den zahlreichen monokausalen Präventionsvorschlägen, die nach und nach immer wieder auftauchen, bei genauer Betrachtung aber auch wieder verschwinden: Heidelbeeren, Kaffee, grüner Tee, Vitamin D, Fisch, Vitamin B12, Rotwein, kein Alkohol, viel Bewegung, ausreichend Schlaf, Sprachenlernen usw., was alles möglicherweise sehr gesund und hilfreich ist, aber eben alles monokausal, im Paket von vielen nicht wirklich zu realisieren ist, und meines Erachtens nicht ausreichend, weil es an der falschen Stelle ansetzt. Und nein: Sudoku und Kreuzworträtsel sind nicht zur Demenzprävention geeignet.
Demenz ist eine Krankheit des Bewusstseins - ich vermute, dass dies für die meisten inzwischen unzweifelhaft ist, doch was ist dieses Bewusstsein, das sich da scheinbar krankhaft verändert?
Wissenschaft wie die meisten Menschen für sich suchen immer noch nach Erklärungen auf der biomedizinischen Ebene, in den Synapsen, die sich auflösen, bis hin auf die kleinste molekulare Ebene, immer noch tiefer und noch feiner - was insofern verständlich ist, weil dies das gängige Narrativ unserer Welt ist, dass Bewusstsein aus bzw. in Materie erscheint - der evolutionäre Weg. Und doch findet sich keine Erklärung, die hilfreich erscheint, seit Jahrzehnten nicht.
Alle Menschen, die eine spirituelle, meditative, kontemplative Praxis pflegen, alle, die ein Zeugenbewusstsein kennen oder zumindest erahnen, wissen, dass es sich bei Bewusstsein um etwas anderes handelt, etwas, das „außen“ ist, jenseits dieses Körpers und damit auch des Gehirns. Meist ist es nur eine Ahnung, und es ist auch noch kein Thema, das wirklich salonfähig ist (außer vielleicht in integralen oder spirituellen Kreisen). Doch für mich ist an dieser Stelle zunehmend eine „spirituelle Redlichkeit“ gefragt, ein offenes Bekennen dafür, dass „ich“ in meinem Leben ernsthaft eine Praxis betreibe, die von Bewusstseinsdimensionen jenseits des Verstandes ausgeht, die den „spirit“ jenseits des „mind“ erahnen und anerkennen kann.
Wenn es gelingt, dieses Verständnis, das z.B. aus dem Zeugenbewusstsein resultiert, in die Überlegungen zu Demenz mit hinüber zu nehmen, dann können wir Demenz anders betrachten, und zwar nicht organisch-psychologisch, sondern als eine Art „Mangelkrankheit des höheren Bewusstseins“, und damit zumindest den Gedanken mit aufnehmen, dass es sich bei Demenz um eine spirituelle Krankheit, keine medizinisch-organische, handelt.
Ich lade daher diejenigen, die sich stabil und im Leben ausreichend gehalten fühlen, ein, den Zustand der Demenz in der Meditation oder der Kontemplation zu erforschen. Wie fühlt es sich an, wenn in diesem Zustand der Versenkung kein Ich mehr ist? Und zwar dauerhaft, wenn da keine innere Instanz mehr zu finden ist, die mit einer Geschichte, einer personalen Identität verbunden ist - und dieses Sensing dann mit hineinzunehmen in den Alltag, in jeden Moment des Seins, in Alltagsentscheidungen und alltägliche Handlungen - "ohne Ich". Dort ist der Zugang zum Verständnis, wie Demenz sich "von innen her" anfühlt - nicht in der Meditation, sondern im Alltag, dauerhaft ohne Referenzpunkt des Ichs das Leben bewältigen zu müssen.
Aus der Perspektive, dass Demenz eine Mangelkrankheit des höheren Bewusstseins ist, ist - für mich offensichtlich - dann die Überlegung möglich, ob das millionenfache Versinken in der Demenz wirklich nicht aufhaltbar ist? Die Menschheit verliert so unendlich viel Wissens und Weisheit dadurch, dass so viele Menschen im Älterwerden nicht wissen, wie sie ihr Bewusstsein selbst lenken und leiten können.
In einem jahrelangen Prozess der Selbsterforschung bzw. der Erforschung des „Nicht-Selbst“ konnte ich die Symptome, die mit diesem anhaltenden Zustands der Ich-Auflösung auftreten können und von dem sehr viele Menschen in bzw. nach spirituellen Krisen berichten, intensiv erforschen - einen guten Einblick in derartige langanhaltende Zustandserfahrungen, die in keiner Weise blissful sind, gibt Adyashanti in seinem Buch „The End of Your World“, wo er bewusst oder unbewusst viele Parallelen zur Demenz aufzeigt.
Als Demenz-Spezialistin hatte ich das Privileg und die Herausforderung zugleich, zu erkennen, dass viele der Erfahrungen, die ich machte, sehr nahe an dem lagen, was sich in der Demenz als dauerhafte und immer weiter fortschreitende „Störung“ zeigt. Manchmal war es beängstigend, oft war es verwirrend, doch glücklicherweise siegte immer wieder mein wissenschaftlicher Forschergeist und konnte der Situation etwas Positives abgewinnen, auch wenn es in vielfacher Hinsicht „The End of My World“ war.
Ich gehe nach dieser langen und intensiven Forschungsphase davon aus, dass wir der Demenz nicht schicksalshaft ausgeliefert sind, und dass das Leben eines Menschen im Alter nicht den Weg der Selbst-Verdunklung, den Weg der unbewussten Ich-Auflösung gehen muss, sondern stattdessen den Weg der bewussten Ich-Auflösung und damit den Weg der Selbst-Erleuchtung, der bewussten Entfaltung des schöpferischen Impulses, der in jedem Menschen verborgen ist.
Ich gehe davon aus, dass es der evolutionäre Sinn des Alterns ist, den Raum und die Zeit zu geben für die endgültige Enthüllung des schöpferischen Impulses, sofern es vorher noch nicht geschehen ist (was derzeit bei den meisten Menschen der Fall sein wird) und der Vollendung desselben. Wenn der Körper zunehmend langsamer und schwächer wird, wird uns damit immer mehr der Zugang zu der Dimension jenseits unseres Verstandes, zur Dimension des spirits, des Bewusstseins des Bewusstseins, und schließlich möglicherweise auch des Einheitsbewusstseins ermöglicht.
Wenn ein Mensch davon nichts weiß und demzufolge keine (geistigen und spirituellen) Handwerkszeuge hat, diese innere Arbeit, diese Bewusstseinsarbeit zu tun, dann ist der Weg der unbewussten Ich-Auflösung auch aus Verzweiflung, aus Desorientierung im eigenen Sein vermutlich unausweichlich - zu lang ist diese Lebensphase der Verlangsamung und der fehlenden personalen Sinngebung inzwischen geworden.
Mein Ansatz ist nicht nachvollziehbar, wenn man Demenz nur von der körperlichen Ebene aus zu verstehen versucht, insbesondere dann, wenn man die aktuellen Erkenntnisse der äußeren Wissenschaften als Leitlinie für das Verstehen nimmt.
Ich sehe die körperlichen Symptome als die Manifestation einer lange vorher begonnenen Bewusstseinsentwicklung, als involutionäre Folge eines inneren Kampfes, der verloren gegeben wurde, als Ringen mit der Ich-Auflösung, das aufgrund fehlenden Wissens über derartige Vorgänge und der Dominanz des medizinischen Narrativ in der Verzweiflung, Angst und Scham resultierte, die dann zu einem Abbau von Synapsen führte, ohne dass ein neues Wissen über das höhere Selbst im Sein verankert werden konnte. Wenn wir anfangen, medizinische Forschung aus einer involutionären Perspektive voranzubringen, werden wir auf völlig neue Perspektiven stoßen, die das Gehirn als "Verteilerstation des schöpferischen Impulses" und nicht mehr als Denkorgan betrachtet. Wer dafür wissenschaftliche Belege sucht, vertiefe sich u.a. in die Zusammenhänge zwischen der nondualen Meditation und der Demenz, was den Precuneus und das Default Mode Network angeht.
Die Menschheit braucht das volle Bewusstsein aller alten Menschen, ihren jeweiligen evolutionären Beitrag zur kollektiven Bewusstseinsentwicklung, und in dieser Zeit ist dies offensichtlicher und dringlicher als je zuvor. Wir können möglicherweise die Entwicklung der alten und sehr alten Menschen, die auf einem weiter fortgeschrittenen Weg der Demenz unterwegs sind, nicht mehr wenden, aber wir können als Angehörige und Pflegende mit anderen Augen auf diesen Entwicklungsweg schauen.
Und vor allem können wir als alternde Menschen - als Menschen in ihren 50ern, 60ern und 70ern - die Aufgabe des bewussten Alterns ernst nehmen und zugleich gewahr werden, dass spirituelle Entwicklung nicht automatisch eine Demenz verhindert, sondern ganz im Gegenteil, dass auch das spirituelle Ego in die Demenz führen kann, wofür es zahlreiche Beispiele gibt.
Auch im hohen und sehr hohen Alter bleiben wir für die Entwicklung unseres Bewusstseins verantwortlich, diese Aufgabe kann uns keiner abnehmen, und unser direktes Umfeld wie das Menschheitsbewusstsein an sich ist in gewisser Weise darauf angewiesen, dass wir diese Aufgabe bis zum letzten Moment erfüllen.
Häufig höre ich in derartigen Gesprächen, dass jeder doch das Recht haben müsse, irgendwann loszulassen und sich auch in die Demenz fallen zu lassen. Wenn wir da mit dem Recht argumentieren, dann bleiben wir auf einer Stufe des Bewusstseins stehen, das mit der Bequemlichkeit unser heutigen Zeit argumentiert, das dem persönlichen personalen Sein in dieser Existenz einen höheren Wert zumisst als einer kosmischen, holistischen Perspektive des Einheitsbewusstseins. Natürlich hat auf dieser Ebene jeder „das Recht“, in die Demenz zu gehen, und ich habe von mir selbst auch keine Gewissheit, dass ich nicht eines Tages loslassen und diesen Weg gehen werde. Und ich stand in den letzten Jahren mehrfach an dieser Stelle und weiß, wie herausfordernd, quälend und schier unbewältigter diese Aufgabe erscheint, in jedem Moment die Verantwortung für die eigene Bewusstseinsentwicklung zu übernehmen, auch wenn die gesamte Lebenssituation unerträglich, demütigend, entsetzlich einsam und niemals endend erscheint.
Wir stehen als Menschheit an einem Punkt unserer kollektiven wie kosmischen Entwicklung, wo wir uns es nicht mehr leisten können - auf einer ganz simplen, manifesten Ebene gesprochen - zu ignorieren, dass Demenz verhindert, dass alte Menschen ihren Beitrag leisten zur Bewusstwerdung des Ganzen, und dass uns als Menschheit mit jedem Menschen, der den Weg in die Verdunklung statt in die Erleuchtung geht, ein Beitrag zur Wendung der immer stärker aufscheinenden dystopischen Entwicklung verloren geht.