Die Erfahrung des Nichts

 Vor einigen Jahren hatte ich - für mich damals als "out of the blue" erlebt - eine Bewusstseinserfahrung des "Nichts", eine in Zeit und Raum die Dauer eines Fingerschnipps scheinbar nicht überschreitende Erfahrung von "einfach nichts", eine Erfahrung, die keine Erfahrung war, weil da niemand war, die eine Erfahrung machte und nichts da war, was erfahren werden konnte, und zugleich gab es in dieser relativen Welt von Zeit und Raum ein "davor" und ein "danach", und in Ermangelung passenderer Begriffe - soweit Worte derartiges überhaupt beschreiben können - ist "Erfahrung" die beste Beschreibung, die ich bisher gefunden habe. Diese Erfahrung ereignete sich, während ich in Kontemplation eines wissenschaftlichen Textes über Bewusstseinsentwicklung war, eine Technik, die in mir seit einigen Jahren immer mehr angewachsen war und die mir ermöglichte, Sachverhalte zu verstehen, die meinem Verstand erst einmal nicht zugänglich waren - und durch die ich nun das Nichts erfuhr. 

 

Dieses Nichts war ein absolutes Nichts, und damit verbunden war die vollkommene Klarheit, dass diese Entität, die ich jetzt beim Schreiben als Ich bezeichne, nicht existiert. [Der Satz wirkt merkwürdig technisch und knapp, und zugleich enthält er "Alles", und alles Folgende dient nur dem Versuch, etwas Unbeschreibliches schriftlich verständlich auszudrücken.]

 

In den spirituellen Traditionen gibt es viele Beschreibungen für die Erfahrung des "Einfach Das", oder auch für die Leerheit aller Form, aber für die Erfahrung des "Einfach Nichts", wie ich sie machte, habe ich lange keine Beschreibungen gefunden, die meiner Erfahrung wirklich nahe kamen - bis ich auf Robert Wolfe mit seinen Beschreibungen von "ajata" stieß: 

 

Advaita is difficult to discuss; ajata is infinitely more so. Advaita tells us that reality is “not two”. Ajata tells us that it is “not even one". 

 

Ajata translates as “no creation”. This means to say that nowhere has anything ever come into being. Therefore, the entire universe (or universes) — and everything therein — has no reality. In other words, the ultimate condition is nothing, or nothingness. 

 

[...] In Advaita, we come to realize that “all that is, is That,” or the Absolute.

Ajata is where we subsequently come to realize that there is not even That (or the Absolute).

 

Technically, from the standpoint of ajata, even nothingness is non-existent.   

https://ajatasunyata.com/ajata-is

 

No creation, keine Schöpfung - dies beschreibt die Erfahrung präzise: Das Nichts, das Absolute Nichts, no creation - schon das englische "nothingness" ist im Grunde zu viel, das deutsche "Nichts" erscheint mir da viel präziser, dort, wo es keiner Präzision bedarf. Da war Nichts, und in diesem Nichts keine Angst, kein Dunkel, keine Freude, kein Licht - es war schlichtweg Nichts. 

 

Aus diesem Absoluten Nichts tauchte damals, wieder nach dem Moment eines Fingerschnipps (wenn man es in Zeit und Raum messen würde) alles auf, ein "Absolut Alles", der "Absolute Möglichkeitenraum", in dem alles ist: alles was war, alles was ist, alles was sein wird und auch alles, was nie sein wird - ein scheinbar unendlicher, dimensionsloser Raum oder Feld, das alles enthält - es ist das, was ich die "Erfahrung des Absoluten" nenne. 

 

Dies hat sich in "mir", als das ich mich direkt danach und seitdem ja weiterhin auch meist empfinde, eingeprägt, dieses "Wissen" um das Absolute Nichts und die Nicht-Existenz dieses Seins, und dann zugleich und in kosmischen Dimensionen dennoch einen "Moment" später (möglicherweise ist das der Zeitraum, der als Planck-Zeit beschrieben wird) alles, und zwar wirklich Alles, alle Möglichkeiten in einer dimensionslosen Dimension, die un-beschreiblich ist. 

 

Direkt danach kam ich zurück in diese Wirklichkeit,  in der alles wie zuvor erschien, und dennoch war nichts mehr wie zuvor. 

Dieses Paradox bestimmt seitdem mein Sein, zuerst lange eher ins Unterbewusstsein verdrängt, weil vom Verstand zuerst kaum zu erfassen und zu verarbeiten, dann über die Jahre immer bewusster werdend und in meinem Alltagsbewusstsein immer präsenter. Die Frage, die damals direkt danach auftauchte, war "Und wie leb' ich das jetzt?" - und diese Frage hat mein Hier-Sein als ein Ich lange durchgeschüttelt und immer mehr aufgelöst. Inzwischen befinde ich mich in einem verstandesmäßig immer besser "fassbaren" Prozess der Wiedergeburt, der Neuschöpfung - ein klarer Begriff für diesen Vorgang ist auch hier noch nicht aufgetaucht.

 

Ich musste lernen, mit der Paradoxie des Wissens des Nichts und der Erfahrung des Seins zugleich in jedem Moment zu leben - was sich möglicherweise leicht anhört, was jedoch nach dieser Erfahrung und ohne Anleitung nicht leicht zu verwirklichen ist, wofür ich jedoch mit der Zeit mehr und mehr Quellen fand, die mich darin unterstützten, dass dies keine Kleinigkeit ist - im Gegensatz zu esoterischen Bemerkungen im Sinne eines "Da ist ja keiner", welche die Herausforderung, die Paradoxie im Hier und Jetzt und somit dauerhaft - in Zeit und Raum - zu leben, nicht ansatzweise erfassen können.

 

Ich war in der integralen Theorie bewandert und hatte viel zu Bewusstsein gelesen und geforscht, war aber stets aus einem erkenntnistheoretischen Interesse in diesen Feldern unterwegs gewesen und nicht aus einer spezifischen spirituellen Motivation. So gehörte ich keiner spirituellen Tradition an, in  der ich Anleitung hätte finden können, und meine ursprüngliche römisch-katholische Sozialisation hatte mich in keiner Weise auf eine derartige Erfahrung vorbereitet noch mir Handwerkszeug vermittelt, mit dem nun einsetzenden Prozess umzugehen. Viele Anleitungen zum Umgang mit einer derartigen Situation, die ich im Internet oder in Büchern fand, bezogen sich auf das Einheitsbewusstsein, advaita, und eben nicht auf ajata, und ich merkte zwar, dass diese Anleitungen für mich nicht wirklich hilfreich waren, fand aber auch keine passenderen - und musste am Ende meinen ganz eigenen Weg finden. 

  

So begab ich mich mehr oder weniger freiwillig und weitestgehend alleine auf eine mehrjährige Reise des Verstehens und der Integration, die lange Zeit sehr herausfordernd war, auch weil die Covid-Situation, die etwa anderthalb Jahre nach dieser Erfahrung emergierte, mich noch mehr aus meinem früheren Leben herauskatapultierte, da ich innerhalb kürzester Zeit alle meine Aufträge als Supervisorin in der gerontopsychiatrischen Pflege verlor, und damit die Basis meiner wirtschaftlichen Existenz. Die folgenden Jahre als spirituelle Krise zu bezeichnen, erscheint mir in Anbetracht der üblichen Konnotationen dieses Begriffes als unpassend, da ich in dieser Zeit Erfahrungen machte, die ich im psychotherapeutischen Setting in dieser Form lange nirgendwo beschrieben fand, und während sie im spirituellen Feld oft überhöht und idealisiert positiv beschrieben wurden, herrschte bei mir Ratlosigkeit vor. Die Auflösung von Welt und Selbst in dem Moment der "Erfahrung" manifestierte sich in der Folge sehr real in meinem Leben - ein wenig Orientierung und Entlastung fand ich schließlich in einigen Texten des tibetischen Buddhismus und später u.a. in dem Buch "The End of Your World" von Adyashanti. 

 

Mithilfe einiger Freunde, die gelegentlich Unterstützung bieten konnten, dank meines Verstandes, der auch in den absurdesten Situationen noch Orientierung fand, und aufgrund der Tatsache, dass ich schließlich Zugang fand zu zwei Menschen, die selbst diese oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben und mir per eMail Wegbegleiter für eine gewisse Zeit sein konnten, und schließlich auch durch die Begleitung einer transpersonalen Psychotherapeutin, die ebenfalls diese Wirklichkeit kennt, konnte ich wieder auftauchen in diese Welt, voll intimer Erkenntnisse über Bewusstseinsdimensionen, von denen ich einige vorher nur an Menschen mit Demenz als "pathologisch" hatte wahrnehmen können und die ich nun in etwas anderer Form als Teil dessen erfahren hatte, was in spirituellen Kontexten auch als "Erwachen" bezeichnet wird. Andere Erkenntnisse und Erfahrungen übersteigen mein Vorstellungsvermögen auf eine Art bis heute - ich habe etwas erfahren, was im Grunde unbeschreiblich ist, und was doch, wie mir viele spirituelle Traditionen in ihren Schriften versicherten, die Grundlage des Seins, die Grundlage der menschlichen Existenzerfahrung ist. 

Ich gehe davon aus, dass viel mehr Menschen eine derartige oder ähnliche Erfahrung machen als bekannt ist, dass aber viele diese Erfahrung nicht einordnen können und sie daher verdrängen müssen und so der damit verbundenen Erfahrung der Ich-Auflösung nicht begegnen können. Hier sehe ich Parallelen zur Demenz - auch, weil ich, wenn ich mich selbst in diesem Prozess befindlich beobachtete, einige Parallelen fand in meinem Verhalten zu dem vieler Menschen mit Demenz, die ich in meinem vorherigen Berufsleben begleitet hatte - mit dem Unterschied, dass mein Verstand nicht betroffen zu sein schien, ganz im Gegenteil: er lief auf Hochtouren und versuchte, die Erfahrung und die Folgen zu verstehen.

 

In unserer westlichen Kultur haben wir kaum verständliche, säkulare Beschreibungen dieses Erfahrungsspektrums, die nicht pathologisieren und stattdessen das Empfinden, sich in einem pathologischen Prozess zu befinden, ernst nehmen und orientierend einordnen. Ich selbst hatte viele Momente, wo mir sehr bewusst war, dass meine Beschreibungen, wenn ich sie öffentlich aussprechen würde, sehr nahe an den Worten eines Menschen in einer akuten Psychose liegen würden, und war mir somit - insbesondere als Gerontologin, als Spezialistin für Gerontopsychiatrie - sehr gewahr über die Gefahr der sozialen Exklusion und des Abrutschens in eine Welt der Pathologisierung, Medikalisierung und Institutionalisierung. Ich hatte einige Menschen, bei denen ich mich immer wieder meiner Realitätsorientierung vergewissert habe - zwar war ich mir selbst sicher, vollständig orientiert zu sein, war mir aber zugleich sehr bewusst, dass eben diese Selbsteinschätzung auch auf einen Mensch in akuter Psychose zutrifft, und so empfand ich es sowohl als Hilfe als auch als eine Art Pflicht, mir dafür auch entsprechende Feedbacks im Außen zu holen. 

 

Diese Website ist Zeugnis, dass es mir gelungen ist, diese Lebensphase psychisch und spirituell gesund zu durchleben und mit Erkenntnissen zurückzukommen, die hoffentlich auch anderen Menschen, insbesondere Menschen mit Bewusstseinserfahrungen, die das biomedizinische System als "Demenz" bezeichnet, Orientierung und Hilfe bieten können. Nicht alle Menschen haben das Glück, die Kompetenzen und die Zugänge zu Bewusstseinsforschung und wissenschaftlichen Erkenntnissen allgemein, wie sie in mir zusammenkamen, wenn sie diese Erfahrung machen. Auch für sie gehe ich mit meinen Erfahrungen und Erkenntnissen hinaus in die Welt. 

  

Ich kam aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisbestreben in diese Erfahrung und in diese Bewusstseinsdimension und meine wissenschaftliche Neugier hat mir durch die letzten Jahre hinweg beim Verstehen geholfen - so wird auch mein weiterer Weg aus einer Verbindung und Integration dieser Bewusstseinserfahrung sowohl mit den spirituellen Wissenschaften als auch den "konkreten" Wissenschaften bestehen. 

 

Dieser Bericht ist nur eine Kurzfassung; insgesamt hatte die Erfahrung des Nichts einige Jahre großer innerer Unruhe im Vorhinein und brauchte etliche Jahre zur Integration, die vollständig innerhalb dessen, was wir als Lebenszeit ansehen, wohl kaum abgeschlossen sein wird. 

Ich sehe aber, dass wir sprechen und schreiben müssen über diese Erfahrungen, denn es gibt einige Beispiele, wo diese oder sehr ähnliche Erfahrungen in eine Manifestation von Krankheiten führte, die offensichtlich nicht aus diesem Bewusstsein heraus zu bewältigen waren, sondern alsbald zum Tode führten, wie z.B. bei Suzanne Segal und bei Bernadette Roberts. Auch sehe ich deutliche Zusammenhänge bzw. Parallelen zu Demenz, was ich unter "DemenzTranszendenz" weiter ausführe.

 

Diese "absolute" Bewusstseinsebene ist in mir nicht "verwirklicht" - die Erfahrung ist nie wieder weggegangen aus meinem "System" und hat sich mit der Zeit auch mehr verkörpert, ich bin aber weit entfernt von einer Vollendung und kann mir das auch nicht als in dieser Lebenszeit abschließbar vorstellen - mehr dazu unter "Kosmische Adresse". 

 

Meine Motivation, mich zu zeigen, beruht neben dem, was ich an Erkenntnissen über Demenz aus dieser jahrelangen Bewusstseinsreise mitgebracht habe, u.a. auch auf der Lebensgeschichte von Suzanne Segal, die - obwohl Praktizierende der Transzendentalen Meditation - acht Jahre brauchte, bis sie in Jean Klein jemanden fand, der ihr erklären konnte, was mit ihr geschehen war, und die ich abschließend zitieren möchte: 

As Westeners seeking spiritual transformation we need to help each other out by sharing our stories. 

Since we encounter spiritual experiences in ways that Easteners do not, we need to gather our accounts of transformation in order to create new "ancient texts" that provide Western-style maps of the spiritual territory. 

Suzanne Segal