Transpersonale Gerontologie

Transpersonale Gerontologie, wie ich sie verstehe, sieht den Entwicklungsprozess des Menschen im mittleren und höheren Lebensalter als Teil des evolutionären Potentials der Menschheit, welches das individuelle Bewusstsein eines Menschen von einem präpersonalen über ein personales Bewusstsein - dessen ausgereifte Erscheinung Carl Rogers als "die voll funktionsfähige Person" bezeichnet - zu einem transpersonalen Bewusstsein des menschlichen Seins führen kann.

Transpersonales Bewusstsein geht damit über die personale Identität hinaus; es entwickelt sich u.a. aus intrinsisch aufkommenden Fragen nach dem Woher und Wohin der eigenen Existenz, nach dem tieferen oder höheren Sinn des Lebens, nach Einordnung des eigenen Lebens wie der Menschheitsentwicklung in kosmische Zusammenhänge - es tauchen Fragestellungen auf, aus denen Abraham Maslow am Ende seines Lebens eine sechste Stufe seiner Bedürfnispyramide formulierte: das Bedürfnis nach Selbsttranszendenz, das Bedürfnis, die Grenzen des eigenen begrenzten personalen Selbst in seiner Gebundenheit an Geschichte, Kultur, Familie und Umwelt zu überwinden und sich für das "Dahinterliegende" jenseits des individuellen Seins zu öffnen. Dies ist ein Bedürfnis, das in unterschiedlicher Ausprägung zu allen Zeiten in Menschen entstand - und in dem, was wir als "unsere Zeit" wahrnehmen, entsteht es in immer mehr Menschen, insbesondere wenn sie die Aufgabenfelder der familiären Sorge und der Berufstätigkeit hinter sich lassen und sich fragen "was denn da noch kommen mag", jenseits des Spannungsfeldes von verdientem Genuss des materiellen und personalen Ertrags des bisherigen Lebens und dem Warten auf den Tod. Transpersonale Zustandserfahrungen, ob bewusst intendiert zum Beispiel durch Holotropes Atmen, oder spontan und unintendiert erfahren, sind eine weitere Quelle für transpersonale Entwicklungsprozesse. 

Nicht nur das Konzept der Gerotranzendenz von Lars Tornstam, das ein wachsendes Bewusstsein für die kosmische Dimension des Seins sowie die zunehmende Selbst-Transzendenz als konstituierende Bestandteile der Fähigkeit zu einer Transzendenz der eigenen Existenz im Altern identifiziert, sondern insbesondere auch die Sonderausgabe Transpersonal Gerontology (2011) des Journal of Transpersonal Psychology sind Belege dafür, dass ein Verständnis der Ich-Transzendenz im Altern keine Neuerfindung ist, sondern in dem hier skizzierten, sicher nicht erschöpfend begründeten Verständnis einer transpersonalen Gerontologie lediglich erneut ins Licht des Bewusstseins gebracht wird.

Im Vergleich zu Lars Tornstams Arbeit wie auch zu Joan Eriksons späten Ergänzungen einer neunten Stufe der Entwicklung in Erik Eriksons "The Life Cycle Completed"  sieht das hier skizzierte Verständnis einer Transpersonalen Gerontologie explizit ein dem Altern immanentes Potential einer transpersonalen Bewusstseinsdimension, welche die personale Identität transzendiert und inkludiert und sich öffnen kann bis hin zu einem unitären Bewusstsein, dem Einheitsbewusstsein bzw. dem Bewusstsein der Nondualität.

 

Transpersonales Bewusstsein kann bewusst entfaltet bzw. es kann zumindest versucht werden, seiner Selbstentfaltung nicht im Wege zu stehen - ein Entwicklungsprozess, der meist einen Bruch mit jahrzehntelang gewachsenen Werten, Rollen, Selbst- und Weltsichten zur Folge hat, und der mit der konventionellen Vorstellung eines "Ruhestands" nicht viel gemein hat. Quellen für dieses Verständnis finden sich in den verschiedenen Modellen der Erwachsenen- bzw. Bewusstseinsentwicklung; persönlich bin ich als Zusammenfügende dieser Gedanken geprägt durch die Entwicklungsmodelle von Susanne Cook-Greuter, Terri O'Fallon bzw. Roman Angerer - und gehalten wird all dies u.a. durch ein Wissen um die Arbeiten von Sri Aurobindo sowie von Rudolf Steiner.  Das hier dargelegte Verständnis einer transpersonalen Gerontologie versteht sich damit als eine Weiterentwicklung der Gerotranszendenz, die diese "transzendiert und inkludiert" - eine Formulierung, die auf Ken Wilber zurückgeht, insbesondere in dem sie auch Zustandserfahrungen infolge von Gipfelerfahrungen bzw. durch andere Erfahrungen jenseits unseres Alltagsbewusstseins einschließt, und damit auch ein Bewusstsein für mögliche spirituelle Krisen als Teil des Alterns beinhaltet. 

 

Transpersonale Gerontologie kann als eine Synthese aus Transpersonaler Psychologie und Gerontologie, Transpersonaler Medizin und Geriatrie, Neurowissenschaften und Religionswissenschaften, Weisheitsforschung und Mystik betrachtet werden, unter Einbeziehung von Erkenntnissen spiritueller Traditionen, der Alltagstranszendenz unzähliger Generationen alternder Menschen in der Menschheitsgeschichte wie auch der dokumentierten und publizierten transpersonalen, unitären und nondualen Erfahrungen vieler Weiser, Heiliger, Gelehrter, die oftmals erst im Alter das personale Ich transzendierten und aus diesen Erfahrungen heraus wichtige Wegweiser für die nach ihnen folgenden Menschen hinterließen - und dies alles vor dem Hintergrund eines Integralen Methodologischen Pluralismus. Und diese Aufzählung ist ganz sicher nicht vollständig; sie soll lediglich die Transdisziplinarität wie auch die Komplexität dieses Konzepts aufzeigen. 

Transpersonale Gerontologie integriert - in Anlehnung an die Arbeiten von Ken Wilber - ein integrales Verständnis des Alterungsprozesses und nutzt dafür das Wissen aus den verschiedenen Wissenschafts-, Erkenntnis- und Praxisfeldern in den verschiedenen Dimensionen des Alterns, um Menschen und Gemeinschaften, die das Leben im Altern als Prozess des "Transzendierens und Inkludierens" des bisherigen Lebens und der vertieften Entdeckung des spirituellen, höheren Selbst verstehen und leben wollen, einen Orientierungsrahmen zur Verfügung zu stellen. Anzumerken ist jedoch, dass das folgende Modell sich fast ausschließlich auf die personalen Aspekte des menschlichen Seins bezieht und damit lediglich eine Basis für transpersonale Reflexionen bietet - eine Basis, die jedoch für eine gesunde Verkörperung auf dem derzeitigen Gravitationszentrum des kollektiven menschlichen Bewusstseins nicht vernachlässigt werden sollte.  

 

Transpersonale Zustandserfahrungen, intendiert durch spirituelle, holotrope oder psychodelische Praktiken oder aber auch unintendiert und damit scheinbar überraschend erlebt, sind in diesem Modell zuerst einmal den oberen Quadranten zuzuordnen, sie haben in der Folge jedoch Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens und verändern diese über die Zeit, insbesondere wenn aus der Zustandserfahrung eine Verkörperung wird, wenn also aus der ein- oder mehrmaligen Erfahrung eine subtile (und später manifeste) Veränderung von Bewusstsein, Denken, Verhalten und schließlich des konkreten Körpers resultiert. 

Mein Verständnis einer Transpersonalen Gerontologie verbindet somit u.a.

  • das kognitive Wissen eines transdisziplinären, integralen Erkenntnisspektrums
  • das Erfahrungswissen eines lebenslangen Alterns, die Kraft und das Wissen von "Elders" und das Konzept der Weisheit
  • transpersonale Bewusstseinszustandserfahrungen bzw. spirituelle Erfahrungen allgemein
  • die bewusste Verkörperung der personalen Identität mit zunehmender Öffnung hin zu transpersonalen Bewusstseinsdimensionen als "default mode" des Alterns
  • das Spektrum einer vorübergehenden oder dauerhaften Transzendenz des Ich hin zu einer "gereiften" Ich-Auflösung als genuin menschliche Erfahrungspotentiale
  • das Gewahrsein für die Gefahr eines "spiritual bypassing", das das Altern in diesem Kontext als spirituellen Pfad verklärt und überhöht und dabei die Vorgänge wie Abbau, Loslassen, möglicherweise auch Schmerz und Schwäche, die mit dem Altern ebenso assoziiert sind und überwiegen können, verdrängen, verschweigen oder gar verleugnen will.

Dies geht einher mit einem Bewusstsein der Bedeutung von Transzendenz- und Auflösungserfahrungen für ein bewusstes und schöpferisches Altern und zugleich mit dem Wissen, dass derartige Erfahrungen das bisherige, zumeist gefestigt erscheinende Lebensgefüge in der personalen Realität zutiefst erschüttern können und damit einen Prozess initiieren können, dessen Herausforderungen insbesondere in der westlichen Kultur kaum bekannt sind und neue Wege und Strukturen in der intrapersonellen wie interpersonellen Integration erfordern.

Transpersonale Perspektiven auf präpersonale Entwicklung im Altern

Aus meiner Begleitung und Bezeugung von Zustandserfahrungen von Menschen mit Demenz sehe ich inzwischen die Möglichkeit, dass die Regression von älterwerdenden Menschen in präpersonale Entwicklungsstufen sowie Bewusstseinszustände - was als Demenz bezeichnet wird - eine Folge früherer, nicht bewusst reflektierter und verdrängter transzendenter Erfahrungen sein kann, sogenannte ungewöhnliche oder paranormale Bewusstseinserfahrungen, bis hin zu einer Erfahrung der Leere oder des Nichts. Diese, so meine These, die ich auch aus neurowissenschaftlichen Erkenntnissen begründen kann, können im weiteren Lebensverlauf zu einer präpersonalen statt einer transpersonalen Ich-Auflösung führen, wenn sie nicht ausgesprochen, verstanden und integriert werden können.

 

Diese möglichen Zusammenhänge zwischen der unbewussten, nicht integrierten Erfahrung der Ich-Auflösung und einer zunehmenden Desorientierung des Selbst bis hin zur Manifestation des Zustands, der als Demenz bezeichnet wird, machen die innere Arbeit der bewussten Ich-Auflösung nicht zu einem "spirituellen Luxus", sondern möglicherweise zu einer Notwendigkeit für den Erhalt der psychischen und spirituellen Gesundheit bis ins hohe Alter. In diesem Zusammenhang ist auch ein wachsendes kollektives Bewusstsein für die transpersonale Dimension des Menschseins allgemein und im Altern im Speziellen, sowie die Förderung von Gruppen und Gemeinschaften, in denen dieses Wissen selbstverständlich geteilt und Menschen in diesem Prozess unterstützt werden, ein Anliegen der transpersonalen Gerontologie. 

 

So kann aus diesem Verständnis einer transpersonale Gerontologie heraus eine Entwicklung des Alterns begleitet werden, die ins präpersonale statt ins transpersonale Bewusstsein zu führen scheint, wie es bei Menschen mit scheinbar abnehmenden kognitiven Kapazitäten der Fall sein kann. Hier eröffnet sich ein Raum für Menschen, die bei sich selbst kognitive Veränderungen feststellen und eine sogenannte Demenzdiagnose erhalten haben oder befürchten. Insbesondere durch die bewusste Auseinandersetzung mit dem, was in einem selbst als involutionäres Potential eingefaltet ist (mehr dazu siehe unter Involution - Evolution), also was durch einen selbst gelebt werden wollte und immer noch gelebt werden will, kann es möglich sein, im Zusammenspiel mit klassischen Präventions- und Interventionsmaßnahmen eine derartige Entwicklung zumindest abzumildern.

 

Auch eröffnen sich Perspektiven, um mit eventuellen Begleitern Vorbereitungen für den späteren Weg zu treffen, die eine positive Integration der Ich-Auflösung, ob sie nun einen prä- oder einen transpersonalen Weg nehmen wird, ermöglichen kann. 

 

Transpersonale Bezüge in der Begleitung von Menschen mit scheinbar abnehmenden kognitiven Kapazitäten sind dort möglich, wo das Umfeld offen und bereit dafür ist. Die bloße Begleitung von personalen oder präpersonalen Themen ist keine Aufgabe der Transpersonalen Gerontologie; transpersonale Bezüge müssen entweder von dem alternden Menschen selbst oder von möglichen Begleitern (z.B. pflegende Angehörige, professionelle Betreuer) gewünscht, verstanden und integriert werden können. So eröffnet dies auch einen Weg der Unterstützung für Begleiterinnen von Menschen, bei denen - wie oben bereits skizziert - spirituell sehr hohe Zustandserfahrungen und ein zunehmender Abbau des Alltagsbewusstseins zusammenkommen, wo jedoch die klassische Definition einer Demenz aufgrund der spirituellen Transmission weder angemessen noch für die Beteiligten hilfreich erscheint.

 

Paradoxien spiritueller Entwicklung im Alter

Auch scheinbar paradoxe Entwicklungen einzelner Menschen mit weit fortgeschrittenen spirituellen Zustandserfahrungen bzw. Bewusstseinszugängen aufgrund jahrzehntelanger spiritueller Praxis, deren personale Identität und damit auch das Alltagsbewusstsein - bei zunächst einmal erhaltener spiritueller Transmission - kontinuierlich abzunehmen scheint, und bei denen in der Folge eine der Ich-Transzendenz diametral entgegengesetzten Ich-Entwicklung stattzufinden scheint, die im klassischen schulmedizinischen und psychiatrischen Verständnis als Demenz bezeichnet wird, können aus der Perspektive einer transpersonalen Gerontologie nachvollziehbar eingeordnet werden. 

 

Derartige Zusammenhänge weiter zu erforschen und neue Perspektiven auf dieses Erfahrungsspektrum zu entwickeln, kann eine der Aufgaben transpersonaler Gerontologie sein - einen Beitrag dazu möchte ich mit meinem Verständnis einer Demenz-Transzendenz leisten.

 

Die bewusste Ich-Auflösung als eine Wachstumsaufgabe des Altern

Das Transpersonale - das Überpersönliche - einzuladen und einzulassen in das eigene Leben und in das Verständnis des eigenen Seins im Erleben des Älterwerdens, und das Personale - das Persönliche, das erdgebundene Ich - zunehmend innerlich zu überschreiten, um am Ende bereit zu sein, das eigene Ich vollständig zu transzendieren und ganz loszulassen als der Tropfen, der sich wieder ganz dem Ozean überlässt, ist für die Transpersonale Gerontologie immanenter Bestandteil des bewussten Übergangs aus dem, was wir Leben nennen, in die Wirklichkeit jenseits dieser körperlichen Existenzerfahrung als Mensch - die Erfahrung des Sterbens, die auf diese Weise vorweggenommen wird: „Die before you die.“ - "Stirb bevor Du stirbst."

 

Die Ich-Auflösung, die in vielen spirituellen Traditionen als Teil des Weges, in manchen gar als Ziel angesehen wird, bekommt aus der Zusammenschau von Regression des Bewusstseins im Alter und transpersonalem Bewusstseinspotential des Alterns eine neue Perspektive, die jedoch weiterer Forschung bedarf, die Erkenntnisse u.a. aus Phänomenologie und Neurowissenschaften vereint und transzendiert zugleich.

 

 

 

 

Stirb, bevor Du stirbst. 

Transpersonale Gerontologie erkennt die Bedeutung der Wahrung, ggf. auch bewusste Stabilisierung der personalen Ich-Identität auch bei fortgeschrittenen transpersonalen Prozessen im Alter an und unterstützt die Aufrechterhaltung eines gesunden personalen Ichs in einem gesunden, lebendigen Körper als Ausdruck der Verkörperung des transpersonalen Selbst in der relativen Welt, ohne dabei die körperlichen Veränderungen im Altern zu verdrängen.

 

Die Transpersonale Gerontologie erkennt den Augenblick, einen Moment als den Ereignispunkt aller menschlichen Erfahrung an und begleitet die Menschen in der zunehmenden Bewusstwerdung des einzigen Augenblicks, den sie wahrnehmen können und aus dem sie immer wieder den neuen Augenblick entstehen lassen - bis hin zum Augenblick des Todes, der als weiterer Transformationsprozess und als möglicher Moment des vollen Erwachens zur wahren Natur des eigenen Seins, des Ich bin, der menschlichen Existenzerfahrung verstanden wird.  

 

Die hier vorgestellten Gedanken zu einer Transpersonalen Gerontologie sind, wie alle Theorien, Konstrukte und Modelle, nur vorläufige Orientierungspunkte des Geistes; sie dienen in erster Linie meiner intellektuellen, konzeptionellen, zugleich erfahrungsbasierten Betrachtung einer zunehmenden Transzendenz des Seins im Altern als einen Weg der bewussten Vollendung der persönlichen Existenzerfahrung.


 

 

 

You are not a drop in the ocean.

You are the entire ocean in a drop.

Rumi


Literatur

  • Erikson, Erik H. (1997) The Life Cycle Completed, Extended Version with New Chapters on the Ninth Stage of Development by Joan M. Erikson, New York
  • Grof, Stanislav (2022) Der Weg des Psychonauten. Enzyklopädie für Reisen in innere Welten, Bd. 1 + 2, Solothurn
  • Journal of Transpersonal Psychology (2011) Special Issue: Transpersonal Gerontology
  • Maslow, Abraham (1971) The Farther Reaches of Human Nature, New York
  • Rogers, Carl R. (1995) On Becoming a Person: A Therapist's View of Psychotherapy, Boston
  • Tornstam, Lars (2005) Gerotranscendence. A Developmental Theory of Positive Aging, New York