Ausgelöst durch die Präsentation meines Modells der Bewusstseinsentwicklung im Alter auf der Online-Konferenz der European Society for Research in Adult Development (ESRAD) im Juni 2025 entstand in mir der Gedanke, dass ich in meinem Modell der Bewusstseinsentwicklung im Alter die 9. Stufe im Modell der psychosozialen Entwicklung nach Erikson präzisiere:
Joan Erikson, Erik Eriksons Ehefrau, die stets an seiner Forschung mitwirkte, hatte in ihrer eigenen wie in Eriks Hochaltrigkeit festgestellt, dass die letzte (achte) Stufe des bisherigen Modells diese Phase nicht abbilden würde: Gebrechlichkeit, Kontrollverlust, Verlust an Selbstvertrauen und Selbstwert hatten Joan und Erik Erikson mehr geprüft, als sie sich das vorher hatten vorstellen können. Sie unterzog darauf alle acht Stufen einem Review des Alters und brachte die (wenig bekannte) Diskussion einer 9. Stufe der Identitätsentwicklung im hohen Alter auf, ohne aber zwei Pole zu formulieren, wie es die vorherigen acht Stufen kennzeichnete, die aufzeigen, welche möglichen Ausgänge die Reifungskrisen der jeweiligen Entwicklungsphase nehmen können.
Aus der Diskussion auf der ESRAD-Konferenz tauchte nun der Gedanke einer vorher schon unbewusst gesehenen Polarität der letzten Lebensphase auf, die sich aus meinem (untenstehenden) Modell ergibt:
Bevor ich weitergehe: Mein Entwicklungsmodell fokussiert ausschließlich auf die Entwicklung im Alter (und nicht auf die gesamte Lebensspanne wie Erikson), und ist ein Entwicklungsmodell des Bewusstseins, das in das Verständnis von Bewusstsein sowohl biologische, kognitive, psychosoziale, interindividuelle und kollektive Aspekte von Bewusstsein als auch den Aspekt von "spirit", also ein "höheres Bewusstsein" mit einschließt.
Joan Erikson wird ein derartiges Verständnis von Bewusstsein wie das letztgenannte nicht fremd gewesen sein, da sie sich auch explizit auf die damals noch junge Forschung von Tornstam zur Gerotranszendenz bezog: "... simply put, gerotranscendence is a shift in metaperspective, from a materialistic and rational vision to a more cosmic and transcendent one, normally followed by an increase in life satisfaction." (Erikson, 1997, 124). Auch wenn ich das "normally" zumindest hinterfragen möchte, zeigen ihre Gedanken wie die vieler anderer Forscher/innen aus dem großen Feld der psychosozialen Forschung, die sich in den 1990er Jahren bereits in ihrem eigenen Alternsprozess befanden, dass ein "kosmisches" oder "höheres" Bewusstsein, wie ich es in meinem Modell mit einbeziehe, diesen Menschen zumindest nicht fremd war.
In meinem - nun erweiterten und damit präzisierten - Modell der Bewusstseinsentwicklung im Alter (siehe untenstehende Grafik) differenziere ich fünf verschiedene Ausprägungen oder "Manifestationen" des Bewusstseins im Alter zwischen der weit fortgeschrittenen (schweren) Demenz als dem einen Pol, und dem vollständig verwirklichten Zustand des spirituellen Erwachens als dem entgegengesetzten Pol.
Ich beziehe mich in meinem Verständnis eines spirituellen Erwachens auf die wissenschaftliche Literatur über dieses Phänomen, die zwar keine einheitlichen, aber doch in wesentlichen Begriffen übereinstimmenden Definitionen vorlegt: "Spiritual awakening is a term given to describe a subjective experience in which an individual’s ego transcends their ordinary, finite sense of self to encompass a wider, infinite sense of truth or reality." (Corneille & Luke, 2021). Meine eigenen Erfahrungen in diesem Kontext sind unter Nichts beschrieben.
Was die Demenz angeht, beziehe ich mich definitorisch auf die ICD10 (Version 2019), auch wenn mein eigenes Verständnis von Demenz inzwischen weit darüberhinaus geht: Demenz-Transzendenz. Ich beziehe hier auch meine zahlreichen Erfahrungen einer professionellen Zeugenschaft von Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz in meiner Praxis als Fallsupervisorin in der gerontopsychiatrischen Pflege mit ein: Vita.
Beide Phänomene - Erwachen wie Demenz - sind Phänomene, die denjenigen, die diese Erfahrung nicht machen bzw. gemacht haben, fremd bleiben, es sind Erfahrungen, die nur phänomenologisch erschlossen werden können, aber nicht kognitiv erfassbar sind. Nur die Zustandserfahrung selbst macht den Zustand erfahrbar. Und dennoch scheinen beide Erfahrungsdimensionen in der realen Erfahrung des (hohen) Alterns immer mehr durch, beides sind Möglichkeiten, denen das individuelle Bewusstsein folgen kann. Zugleich gibt es ein großes Spektrum an Lebenserfahrungen und Bewusstseinszuständen "dazwischen", wie die untenstehende Grafik zeigt.
Die letzte, die finale Lebenskrise des Alterns mag sein, dass das Sein sich ganz seiner eigenen Auflösung hingeben muss - eine These, die ich ja auch an anderen Stellen meiner Arbeit vertrete: "Stirb bevor Du stirbst." (Rumi).
Natürlich beginnt diese Herausforderung nicht erst im hohen Alter, sondern zieht sich letztlich durch alle Lebensphasen, zumindest durch die des Erwachsenenalters. Joan Erikson hat in ihrer Darstellung der neunten Lebenskrise beschrieben, wie der individuelle Verlauf und Ausgang der acht vorherigen Krisen die Bewältigung dieser finalen Lebensaufgabe mit beeinflussen kann: Waren wir im bisherigen Leben in der Lage, stets eher einen "positiven" Ausgang zu erleben, scheint es erst einmal, dass wir auf diese finale Aufgabe möglicherweise besser vorbereitet sind, als wenn das Leben uns immer eher in ein "negatives", belastendes Resultat manövrierte. In diesen letzten Jahren, Monaten und Wochen, wo wir der Tatsache, dass unser Leben zu Ende geht, nicht mehr ausweichen können, mag es erst einmal leichter erscheinen, mit positivem Gepäck auf diese Reise zu gehen. Doch das scheint mir eine verkürzte Betrachtung zu sein, denn aus den belastenden Erfahrungen und ihrer Bewältigung kann gerade eine große Resilienz und psychologische wie spirituelle Reife entstanden sein, wie zahlreiche Lebensgeschichten zeigen. Unter vielen verweist die Biografie und spätere Arbeit des Neurologen und Psychiaters Viktor Frankl auf genau diese Resilienz, oder auch die Forschung von Aaron Antonovsky, die später in seinem Konzept der Salutogenese resultierte.
Als dauerhafte Verkörperungen - das vollständig verwirklichte Erwachen und die vollständig verwirklichte Demenz - können Aufwachen/Einschlafen als die Vollendungen der Pole der vorhergehenden Stufe verstanden werden: Aus der immer tieferen Verkörperung der Ich-Integrität kann die bewusste Ich-Auflösung gelingen, denn was vollständig integriert ist, kann auch losgelassen werden und damit den Weg in das vollständige Erwachen aus der Illusion einer personalen Identität ermöglichen.
Und aus der immer tieferen Verzweiflung über das bisherige Leben und unerfüllte Lebensthemen führt der Weg fast unvermeidlich in ein immer tieferes Verdrängen des eigenen Seins - der Weg in die Demenz beginnt zwar viel früher, findet aber doch hier in den späten Stadien der Demenz seine Vollendung im zunehmenden und am Ende vollständigen Versinken in der Illusion. Und diejenigen, die verschiedene Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz über einen längeren Zeitraum begleitet haben, können aus der Perspektive des professionellen Zeugen vielleicht nachempfinden, wenn ich in diesem Kontext von der Demenz als Einschlafen des Bewusstseins spreche: Das Ich-Bewusstsein, die Ich-Identität ist in diesen Menschen zumeist vollständig eingeschlafen.
Untenstehende Grafik ist vorläufig, erstellt für meine Präsentation auf der Science of Consciousness Conference. Übersetzung ins Deutsche folgt später.
Auch eine ausführliche Erläuterung des Modells wird folgen, nach der Konferenz. Bis dahin verweise ich auf den (englischen) Artikel von mir im Journal of Transpersonal Research, der unten in der Literatur verlinkt ist.
In meinem Denken, in meinem Gewahrsein dieser Phänomene ist all dies ein Geschehen "in Bewusstsein", es ist alles Ausdruck des Einen oder des Absoluten und schon allein deswegen enthält keine der hier vorgenommenen Beschreibungen irgendeine Bewertung. Es sind Beschreibungen, und diese Beschreibungen nehme ich vor in dem Bewusstsein, dass ich damit neue Realitäten mit kreiere bzw. konstruiere. Mir scheinen diese Konstruktionen jedoch
Aus diesen Gründen bringe ich diese Konstruktionen in die Welt.
Bei berechtigten Zweifeln an diesen Voraussetzungen bitte ich um Nachricht: info@bettinawichers.de.
Dieser Artikel hat nicht den Anspruch, vollständig zu sein, sondern ist in Ergänzung zu meiner Forschung und meinen anderen Publikationen, u.a. auf dieser Website zu verstehen.
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Veröffentlicht 29. Juni 2025
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